Bundesgleichstellungsgesetz - Barrieren müssen fallen überall

Barrieren müssen fallen - überall!

Katrin Werner, MdB
Behindertenpolitik Katrin Werner

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich müssten wir diese Debatte nach draußen verlegen. Gestern haben sich Aktivisten aus Protest gegen den hier vorgelegten Gesetzentwurf am Reichstagsufer angekettet. Sie haben die ganze Nacht dort verbracht und protestieren mittlerweile seit über 30 Stunden ohne Schlaf.

Da wir aber nicht nach draußen gehen können, möchte ich jetzt stellvertretend zwei Vertreterinnen auf der Besuchertribüne begrüßen, nämlich Nadine und Carola. Eine von ihnen ist Rollstuhlfahrerin, die andere ist eine gehörlose Frau, die die Debatte leider nicht verfolgen kann, weil es an einer Gebärdendolmetschung fehlt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht! - Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Da ist doch eine Gebärdendolmetscherin!)

- Gut, dann ist sie da. - Um kurz darauf einzugehen: Es gab - -

Vizepräsidentin Ulla Schmidt:

Wir werden immer barrierefreier, Frau Kollegin Werner - Schritt für Schritt.

(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Ein Vorwurf schon einmal ausgeräumt! - Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie hat sie mitgebracht!)

Katrin Werner (DIE LINKE):

Frau Präsidentin, ich wollte mich gerade korrigieren und brauchte deshalb diesen Hinweis nicht. Ich habe sie jetzt gesehen, weiß aber, dass der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes schon Anfragen gestellt, bis heute aber keine Antwort bekommen hat. Ihm wurde nicht mitgeteilt, dass dort oben eine Gebärdendolmetschung stattfindet. Diesen Vorwurf nehme ich jetzt also zurück. Ich gestehe ja auch ein, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf ein paar gute Dinge geregelt haben, aber 90 Prozent regeln Sie eben nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte gleichzeitig die Aktivisten vor Ort grüßen, die die Debatte hier jetzt per Live-Übertragung mitverfolgen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, die Menschen sind wütend, und ich finde, aus gutem Grund. Vor gut einer Woche, am 4. Mai 2016, sind in Berlin Tausende Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen Ausgrenzung und Diskriminierung demonstriert. Im Anschluss daran haben sie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales blockiert. Einer der Gründe für ihre Entrüstung und ihre Wut ist die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes, über die wir gerade diskutieren und nachher abstimmen werden. Menschen mit Behinderungen werden durch den vorliegenden Gesetzentwurf weiter diskriminiert. Er geht - sorry, Frau Nahles - vollkommen an der Lebensrealität der Menschen vorbei.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ganz ehrlich: Ich wollte es nicht ansprechen, aber als ich Sie vorhin gehört habe, musste ich mich an September 2013 erinnern. Damals waren Sie in der Opposition. Ich habe meiner Tochter das Lied nicht vorgesungen; daher werde ich es jetzt auch nicht vorsingen. Sie haben der Regierung damals nach einer längeren Passage des Selbstlobes gesagt, wir müssten den Menschen mehr helfen, und Sie haben ihr singenderweise vorgeworfen - Zitat aus Pippi Langstrumpf -, sie mache sich die Welt, wie sie ihr gefällt. Genau so kommt es mir hier teilweise auch wieder vor. Sie halten einfach schöne Sonntagsreden, aber die Verbesserungen durch diesen Gesetzentwurf betreffen nur ungefähr 10 Prozent der Lebensrealität der Menschen, weil sich das Leben der Menschen nun einmal nicht in den Bundesbehörden und den Bundesämtern abspielt,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

sondern in den Arztpraxen, in den Läden, in den Theatern, in den Kinos und in ihren Wohnungen. Genau die Barrierefreiheit dort regeln Sie nicht. Ganz ehrlich: Das ist ein Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Schon wieder!)

Frau Nahles und Frau Lösekrug-Möller, beantworten Sie mir die Frage, warum Sie die Abstimmung darüber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Warum können Sie das nicht heute und hier regeln? Wenn Sie die Barrierefreiheit in dieser Art nicht umsetzen können: Viele Selbstvertretungsorganisationen haben Ihnen Vorschläge gemacht, darunter einen Schritt, der nicht Millionen kostet, nämlich ganz einfach: angemessene Vorkehrungen. Um angemessene Vorkehrungen geht es in dem Antrag der Linken und auch in dem Antrag der Grünen. Gehen Sie doch diesen Schritt und stimmen Sie mit Ja.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für diejenigen, die es nicht wissen: Der Begriff „angemessene Vorkehrung“ hört sich zwar sehr juristisch an, aber es sind ganz einfach Maßnahmen, die geeignet und erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit allen anderen Menschen am Leben teilhaben und ihre Grundfreiheiten und Menschenrechte wahrnehmen können. Für diejenigen, die Angst haben, dass diese Maßnahmen teuer sein könnten, sage ich: Bei den angemessenen Vorkehrungen wird vorgeschrieben, dass Maßnahmen keine unverhältnismäßige oder unangemessene Belastung darstellen dürfen, also keine Milliardenbeträge kosten dürfen.

Vielleicht ein einfaches Beispiel: eine Einkaufsstraße mit mehreren Läden mit Stufen. Wenn die Einzelhändler sich zusammenschließen und darauf verständigen würden, eine mobile Rampe oder Schiene zu kaufen -

(Volker Kauder (CDU/CSU): Kollektiv!)

- das können Sie auch so nennen -, dann könnten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer diese Läden erreichen. Das betrifft ja nicht nur die Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer. Das betrifft ältere Menschen mit Rollator. Das betrifft die Mutter oder den Vater mit dem Kinderwagen. Wenn sich die Einzelhändler zusammenschließen, dann kostet die Anschaffung keine Tausende von Euro. Kleine Empfehlung: Bei Google kann man die Preise finden.

Wenn man das so machen kann, dann nehmen Sie diese Regelung doch verpflichtend auf.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ganz ehrlich, Herr Schummer: An die Kraft der Überzeugung können Sie 14 Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes und sieben Jahren nach der Unterschrift unter die UN-Behindertenrechtskonvention doch nicht allen Ernstes glauben. Das macht keiner freiwillig. Machen Sie es daher verpflichtend.

Eine Bitte an die folgenden Rednerinnen und Redner - ich weiß, meine Zeit ist abgelaufen -:

(Manfred Grund (CDU/CSU): Nein, nur die Redezeit!)

Vielleicht gehen Sie in den nachfolgenden Reden nicht nur auf die 10 Prozent an schönen Dingen in Ihrem Gesetzentwurf ein, sondern erklären den Menschen, warum Sie nicht bereit sind, diesen kleinen Schritt zu gehen.

(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): 90 Prozent sind ein kleiner Schritt! Aha!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)