Die Würde des Menschen ist unantastbar

Katrin Werner, Deutscher Bundestag

 

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,

die Bundesregierung singt gern das Hohe Lied der Menschenrechte. Gegenüber ausgewählten Ländern erhebt die Bundesregierung gern den moralischen Zeigefinger, auch um von der Situation im eigenen Land abzulenken. Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wir haben allerdings in der Bundesrepublik keinen Grund zur Selbstzufriedenheit! Die Menschenwürde wird in diesem Land alltäglich verletzt. Dies gilt vor allem für Kinder, die in Armut leben, für die Ausgrenzung von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen und von Menschen mit Behinderungen. Gerade die konkrete Lebenssituation der sozial Benachteiligten und Schwachen ist aber der Lackmustest für unsere realen Menschenrechtsstandards! Wer definiert in diesem Land eigentlich, was zu einem Leben in Menschenwürde gehört?

Ich möchte diesen Zusammenhang am Beispiel der Kinderarmut näher erläutern: Seit einigen Jahren steigt die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland unaufhörlich an und man fragt sich: Wieso ist das so? Laut aktuellen Angaben der Kindernothilfe wachsen derzeit rund 3 Millionen Kinder unter Armutsbedingungen auf. Hinzu kommt, dass unser Bildungssystem die Armut zementiert, weil es kaum Aufstiegschancen bietet. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung können inzwischen Arbeiterkinder in den USA leichter studieren als in Deutschland! Dieses Verhältnis war früher einmal umgekehrt! 85 Prozent der Kinder mit Behinderungen besuchen in Deutschland sogar Sonderschulen und keines dieser Kinder erreicht die Fach- oder die Hochschulreife. Kinder- und Jugendarmut ist für ein wohlhabendes Land wie die Bundesrepublik ein gesellschaftspolitischer Skandal! Die großen Wirtschaftskonzerne werden als Verursacher der Finanzkrise entlastet und bei der Armutsbekämpfung und anderen Sozialausgaben wird gekürzt. Allein in meinem Bundesland Rheinland-Pfalz sind über ein Fünftel der 15-18-Jährigen  arm. Die Ursache für Kinderarmut ist meist die Einkommensarmut der Eltern. Küchenhilfen in Trier bekommen 4 Euro Stundenlohn, Überstunden werden mit einer Pizza oder mit Bier entgolten. Wie soll damit eine Familie ernährt werden? Die Kinder aus solchen armen Familien gehen häufig ohne ein Pausenbrot in die Schule. Weil den Eltern das Geld fehlt, müssen sie auf bestimmte Freizeitaktivitäten wie einen Schwimmbadbesuch verzichten oder können nicht an Klassenfahrten teilnehmen. Kindergerechte Teilhabe und Menschenwürde sehen anders aus!

Meine Damen und Herren, die sogenannte „Reform-Agenda 2010“ hat Millionen Menschen in Deutschland in Armut gestürzt. Damit wurde ein bislang ungekannter Raubbau vor allem an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten der Schwächsten unserer Gesellschaft betrieben! Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn zur Durchsetzung der Menschenwürde und der Menschenrechte von Millionen Betroffenen und ihren Kindern! Um die Massenarmut zu bekämpfen, fordert DIE LINKE einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 EURO pro Stunde! Ansonsten gibt es keine sozial gerechte Teilhabe in unserer Gesellschaft! Die Bundesregierung könnte hierbei von unseren europäischen Partnern lernen. Im Europarat fordert selbst die Gruppe der Europäischen Volksparteien, das sind die Konservativen, die Einführung von Mindesteinkommensgarantien. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von 10,16 EURO pro Stunde. Auch in Frankreich gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Arbeit muss eben angemessen bezahlt werden, um ein Leben in Würde zu ermöglichen! Das sind die Vorbilder, an denen sich die Bundesregierung orientieren müsste! Stattdessen betreibt Schwarz-gelb lieber eine Sündenbockpolitik, die die Betroffenen selbst für ihre Misere verantwortlich macht!

Menschenunwürdig ist auch Deutschlands Umgang mit Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Bei Flüchtlingen und Asylsuchenden haben wir ein menschenfeindliches Abschottungssystem geschaffen, für das wir uns schämen müssen! Sofern wir Flüchtlinge nicht vor den Mauern der Festung Europa im Mittelmeer ertrinken lassen oder abweisen, behandeln wir diejenigen, die es trotz allem zu uns schaffen und einen Asylantrag stellen, praktisch wie Kriminelle. Das Asylverfahren und insbesondere die Abschiebepraxis verletzen eindeutig die Menschenwürde der Betroffenen. Oft werden ganze Familien auseinandergerissen und zusätzlich traumatisiert. In Rheinland-Pfalz finden beispielsweise regelmäßig „Rückkehrberatungen“ mit Flüchtlingen statt. Für ein Laptop, einen „Wirtschaftsplan“ für die Selbstständigkeit und etwas Bargeld werden die Schutzsuchenden dann wieder abgeschoben. Und dies wird dann als freiwillige Rückkehr bezeichnet! Dabei fehlt doch in den Herkunftsländern oft sogar der Stromanschluss für ein Laptop! So sieht die Flüchtlingspolitik in Deutschland aus Das spricht Bände über das Verständnis von Menschenrechten! DIE LINKE fordert einen sofortigen Abschiebestopp und einen menschenwürdigen Umgang mit Schutzsuchenden und Asylsuchenden! Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht gehören abgeschafft, denn sie beschneiden elementare Menschenrechte!

Sehr geehrte Damen und Herren, es reicht nicht aus, nur an die Vernunft der Bundesregierung zu appellieren, dass sie die Würde und Rechte aller in Deutschland lebenden Menschen besser achten möge. DIE LINKE fordert die Konkretisierung des Sozialstaatsgebots durch die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz. Dies ist notwendig, um künftig Verletzungen insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in Deutschland besser zu begegnen und vorzubeugen. Die vorhandenen deutlichen Defizite vor allem in den Bereichen Armut, Arbeit, Wohnen, Gesundheitsversorgung und Bildung sind in allererster Linie Menschenrechtsverletzungen, die umgehend zu beseitigen sind. Nur in dem Maße, im dem Menschen über soziale Grundrechte verfügen, werden Freiheitsrechte umfassend wirksam. Ohne ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit gibt es keine wirkliche Freiheit! Beides gehört zusammen, es sind die beiden Seiten derselben Menschenrechtsmedaille! Vielen Dank!