Vortrag von und mit Gregor Gysi

Gregor Gysi war am 05.05.2018, am 200. Geburtstag von Karl Marx, an einer von der Linken Liste Trier organisierten Veranstaltung und hat der Universität Trier den Namen Karl Marx verliehen.

Die komplette audivisuelle Rede finden Sie hier: https://www.youtube.com/watch?v=3JSojRNflFw&feature=youtu.be
 

 

 

 

Sehr geehrter Herr Präsident Professor Jäckel,

sehr geehrte Professoren, auch Dozenten falls anwesend,

oder Dozentinnen, Assistentinnen und Assistenten,

aber vor allen Dingen liebe Studentinnen und Studenten,

und liebe Gäste, egal wo Sie herkommen,

ich begrüße Sie ganz herzlich. Sie haben sich von mir eine Vorlesung gewünscht, nun bekommen Sie auch eine.

 

1. Eine Erinnerung

Ich muss Ihnen sagen, wann ich das erste Mal mit Karl Marx direkt konfrontiert worden bin, war ich etwa 15 Jahre alt, ging zur Schule und es war die Zeit 1962, wo die meisten von Ihnen noch nicht mal Weißkäse waren, geschweige denn in einem anderen Zustand, der auf Menschwerden schließen ließ. Aber das macht ja nichts. Zu dieser Zeit kamen bei den Jugendlichen lange Haare auf. Sie wollten auch eine bestimmte Musik hören, in bestimmter Form tanzen und die ältere Generation neigt zu allen Zeiten dazu, den Jugendlichen zu erklären, welche Musik besser ist, welche Frisur besser ist, wie man sich anders schminken soll und wie man anders tanzen soll. Es hat noch nie eine ältere Generation geschafft, der Jugend vorzuschreiben, wie sie sich diesbezüglich bewegen soll. Deshalb sage ich allen Alten: versucht es erst gar nicht, es hat keinen Sinn.

Damals war ich selbst jugendlich und es kamen die langen Haare auf. Was passierte nun? Sie können sich meinen damaligen Zustand nicht vorstellen. Ich will daran auch gar nicht erinnern. Ich will nur auf folgendes Verweisen: das war übrigens in West und Ost gleich. In beidne Staaten ging die ältere Generation gegen die Jugend vor, weil lange Haare gehören zu Mädchen und nicht zu Jungen. So war damals die Ansicht.

Es war noch ein bisschen brutaler in der DDR, weil auch Lehrerinnen und Lehrer und Polizei Jugendliche zum Friseur schleppten, damit ihnen die Haare geschnitten werden. Soweit die Vorgeschichte.

Nun passierte Folgendes: eines Tages kam ich zur Schule und zwei Mädchen hatten eine Wandzeitung gestaltet. Da waren zwei Bilder drauf: eines von Karl Marx und das andere von Friedrich Engels. Und dann stand darunter, wie die heute von der Polizei behandelt würden: ob sie zum Friseur gezogen werden würden, das interessierte sie. Ich fand das ganz witzig, andere auch. Dann kam der Rektor der Schule rein, damals Direktor. Und das ist auch wieder interessant, weil das wieder typisch für die DDR war. Er fragte nicht, wer die Wandzeitung gemacht hat. Das interessierte ihn auch nicht. Er fragte wer in der FDJ-Leitung, das war die Jugendorganisation, verantwortlich sei für politisch-ideologische Fragen.

Mich ging das nichts an. Die Wahl zur FDJ-Leitung war im September. Wir hatten inzwischen schon März nächsten Jahres. Weiter gehe ich darauf auch gar nicht ein. Ich war gar nicht da, also konnte ich damit auch nichts zu tun haben. Dann beugte sich die FDJ-Sekretärin zu mir und sagte: „Ach, Gregor, entschuldige, ich hatte vergessen, dir das zu sagen: wir hatten dich damals in Abwesenheit zum Verantwortlichen für politisch-ideologische Fragen bestimmt.“

Das ist nur deshalb interessant, weil es die Intensität unserer FDJ-Arbeit zeigt. Das heißt: von September bis März hatte die FDJ-Leitung nicht ein einziges Mal getagt, sodass ich das auch gar nicht wusste.

Nun kamen natürlich Denunziationen für mich nicht infrage. Ich meldete mich und sagte: „Ich“.

Daraufhin sagte der Direktor: „Mitkommen!“

Ich ging mit. Er sagte: „Du sorgst dafür, dass die Wandzeitung noch heute abgenommen wird. Das ist eine Provokation.“ Ich sagte: „Darf ich Ihnen die Wahrheit sagen, Herr Direktor? Ich finde das nicht besonders klug.“ Er sagte: „Wieso nicht?“ „Ja,“ sagte ich, „weil Sie daraus ein Politikum machen. Noch ist es ein kleines Rebellentum, weil sich Jugend beschwert, dass die Alten wie Sie uns vorschreiben wollen, welche Haare wir zu tragen haben. Sie machen daraus erst ein Politikum. Ich finde das nicht schlau. Es ist Montag, ich verspreche Ihnen, Freitag wird die Wandzeitung abgehängt. Aber eine Woche sollten Sie sie hängen lassen.“ Darauf sagte er: „Na, ist gut.“

Dann kam ich natürlich triumphierend in die Klasse. Ich hatte ja eine Woche rausgeschlagen und die ganze Schule schaute sich das an. Damit wollte ich gerne darauf hinweisen, dass sowohl Karl Marx als auch Friedrich Engels sehr schöne Frisuren hatten und dass man das zunächst einmal akzeptieren muss.

 

 

2. Pflichtlektüre

 

Während meines Jurastudiums war ich verpflichtet, viele Werke von Marx, Engels und Lenin zu lesen. Dabei stellte ich fest, dass ich Engels besonders gern las. Für mich strahlte er nicht nur Intelligenz, sondern vor allem auch Wärme aus. Er hatte einen durchaus pädagogischen Stil, der aber auf ebenso seltsame wie seltene Weise etwas Einnehmendes hatte. Engels verfügte über einen einfacheren Stil als Marx, war also auch leichter zu lesen.

Beim "Kapital" las ich Band 1 und räume freimütig ein, dass mich das eher anstrengte. Im Vorwort zur ersten Auflage hatte Karl Marx behauptet, er habe im Unterschied zur „Kritik der politischen Ökonomie“ seine Aussagen popularisiert. Na ja, aber der Unterschied stimmt immerhin.

Gern wird zwischen dem Früh- und dem Spätwerk von Marx unterschieden. Das geschieht wohl bei jedem Geistesschaffenden, bei jedem Denker. Leben ist keine Einbahnstraße, kein glatter Pfad. Wenn man die Werke von Marx aus jeweils unterschiedlichen Zeiten liest, gewinnt man also unterschiedliche Erkenntnisse, ergeben sich Unterschiede im aufgegriffenen Themenfeld, widerspricht sich Einiges. Seine Quellen waren die großen Philosophen, die bedeutenden Wirtschaftswissenschaftler und die utopischen Kommunisten. Er versucht, den Idealismus zu überwinden; er erklärt, dass es die materiellen Dinge und Verhältnisse sind, die letztlich über unser Denken und Fühlen entscheiden; er untersucht die Logik des Produktionsprozesses, erklärt beeindruckend, weshalb bestimmte Dinge passieren und andere eben nicht. Schließlich prognostiziert er eine kommunistische Gesellschaft. Und in all dem ist er ein begnadeter Schreiber, glüht in poetischen Bildern und trefflichen Metaphern.

 

 

3. Kapital

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das "Kapital" von Karl Marx nicht nur zu den bedeutendsten Werken dieses Autors zählt, sondern zu den wichtigsten Texten des 19. Jahrhunderts überhaupt. Es ist von heute aus gesehen natürlich leicht, mögliche Schwächen auszumachen, Irrtümer, Fehleinschätzungen, auch zeitbedingte Grenzen.

Die ökonomischen Vorstellungen und Theorien des Aufklärungsliberalismus vor dem 19. Jahrhundert, von John Locke bis Adam Smith, unterstellten immer eine Verträglichkeit der kapitalistischen Praxis mit den Prinzipien des Naturrechts und gingen somit davon aus, dass der Kapitalismus naturgewollt wäre. Natürlich war das pure Ideologie. Marx hielt dem ein Projekt der Wissenschaft entgegen: Es gehe nicht darum, Theorien so zu formulieren, dass sie auf irgendwelche ideologischen Annahmen passten, sondern darum, die ökonomischen Praxisformen auf den Begriff zu bringen. Was sich moralisch, politisch oder in anderer Hinsicht daraus ergeben könnte, sei eine andere Sache. Im Kern ist es das Prinzip der Wahrheit. Auch die Marktfixierung der Neoliberalen heute basiert auf einem reinen Dogma, einer ideologischen Idealvorstellung und theoretischen Fiktion, der reinen Marktökonomie. Die gibt es aber nicht, die kann es auch nicht geben, weil es nämlich noch die Menschen gibt - die mehr sind als nur Elemente in einem theoretischen Modell.

Marx hat unter anderem gesehen, dass der kapitalistischen Konkurrenz ein Ziel innewohnt, das zum Monopol führt. Das Monopol stellt Abhängigkeiten zu anderen Marktteilnehmern, wie etwa Zulieferern, her, und es kann Monopolpreise bestimmen. Nicht umsonst gibt es in entwickelten kapitalistischen Ländern Kartellämter, die das verhüten sollen. Just das offenbart aber, dass nicht der Markt, sondern allenfalls die Politik etwas gegen Monopolisierungstendenzen unternehmen kann. Wer Kapitalismus und freie Märkte miteinander identifiziert, der übersieht fahrlässig oder absichtsvoll diese Tendenz zur Monopolisierung. Schon deshalb ist es kein Wunder, dass Karl Marx für die eher orthodoxen Ökonomen ein Störenfried war und ist.

Das Monopol bezeichnete Marx als Fessel der Produktivkräfte. Die Macht der großen Konzerne und Banken ist heute gigantisch. Wenn man schaut, wie die Energiekonzerne die Energiewende verschlafen haben, wenn man daran denkt, wie die deutschen Autokonzerne die Perspektiven ökologischer Mobilität verspielen und diese durch Softwaremanipulation nur vorgaukelten, und wenn man sich schließlich vor Augen führt, dass Konzerne wie die großen Banken sich lieber vom Staat, d.h. von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern,  retten lassen, als Pleite zu gehen – dann sieht man, dass allzu große Kapitalkonzentrationen ein Entwicklungshemmnis für unsere Gesellschaften sind. Naheliegend wären Maßnahmen, die von der Entflechtung bis hin zur Sozialisierung führen können.

Übrigens hätte man die Intelligenz der Ingenieurinnen und Ingenieure in der Autoindustrie statt für eine genial gefälschte Software auch für das Auto der Zukunft nutzen können. Das wäre eine völlig andere Herangehensweise gewesen.

Die großen internationalen Banken und Konzerne haben sich weltweit organisiert – auf 5 Kontinenten. Sie wussten, dass sie damit einen riesigen Profit und Gewinn machten. Sie wussten auch, dass es keine funktionierende Weltpolitik gibt, die sie regulieren kann. Das alles haben sie begrüßt. Sie haben auf allen 5 Kontinenten Beschäftigte. Aber sie haben etwas erreicht, was sie nicht wollten und worauf sich niemand vorbereitet hat: weltweiten Lebensstandardvergleich. Den hat es früher so nicht gegeben. Machen wir uns nichts vor: wir haben in Europa so gelebt, wie wir in Europa gelebt haben, weil viele Menschen in Afrika nicht wussten, wie wir leben. Nun wissen sie es aber. Nun stellen sie Fragen an uns, auf die wir keine Antworten haben. Und die einzige Antwort aller Regierungen lautet: Abschottung. Abgesehen davon, dass sie inhuman ist, wie wir gerade gehört haben, kommt aber noch etwas hinzu: sie kann gar nicht funktionieren. Eine Abschottung führt zu einer Pause, zu mehr nicht. Hinter der Mauer stauen sich die Probleme, werden immer größer und kommen eines Tages millionenfach und damit unbeherrschbar zu uns. Nein, es gibt nur einen anderen Weg: wir müssen begreifen, dass die Konzerne und Banken folgendes angerichtet haben: die soziale Frage war auch immer schon eine internationale. Aber sie war vorwiegend eine nationale. Sie, die Konzerne und Banken, haben aus der sozialen Frage eine Menschheitsfrage gemacht. Das ist neu. Darum müssen wir, auch im Interesse der Jugend, eine Antwort finden. Anders und billiger geht es nicht. Also sage ich Ihnen ganz klar: bei den großen Banken und Konzernen stimme ich Karl Marx zu, müssen wir eine Vergesellschaftung denken. Eine Vergesellschaftung ist aber etwas anderes als eine Verstaatlichung. Es gibt dafür verschiedene Formen. Damit ich nicht missverstanden werde: das betrifft nicht die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Der Versuch, alle diese zu verstaatlichen, wie ich es ja erlebt habe, hat auch wirtschaftlich zu einem Fiasko geführt. Aber die Macht der Konzerne und Banken, die ist zu brechen. Die darf es so nicht geben.

Bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen bin ich für Privateigentum. Ich bin auch für Genossenschaften, da wo sie angebracht sind. Das ist wieder so ein interessanter Unterschied: in Deutschland gelten Genossenschaften als etwas Sozialistisches. Die Franzosen und Holländer sehen das ganz anders. Sie fördern die Genossenschaften in bestimmten Bereichen, sie sind da ungezwungener als wir, weil wir so stark ideologisiert sind. Aber es gibt einen Bereich, das will ich auch klar sagen, wo das Privateigentum nicht hingehört: das ist bei der öffentlichen Daseinsvorsorge. Bei der öffentlichen Daseinsvorsorge will ich öffentliche Verantwortung und öffentliches Eigentum. Und zwar aus folgendem Grund: ein Krankenhaus muss sich nicht in erster Linie rechnen – ein Krankenhaus muss in erster Linie für Gesundheit sorgen. Das ist ein völlig anderes Prinzip. Und noch deutlicher wird das bei der Bildung.

Aus solchen Zuspitzungen hat Karl Marx das relativ schnelle Herannahen der Revolution gefolgert. Und damit gefehlt. Auch ein Genie kann sich irren.

 

4. Ausbeutung

Wird über Gerechtigkeit geredet, muss über Ausbeutung gesprochen werden. Wenn wir das Wort Ausbeutung hören, denken wir sofort an Sklavenarbeit, Zwangsprostitution, Kinderarbeit, Produktion unter extrem schlechten Arbeitsbedingungen. Die Dinge scheinen klar zu liegen, klar auch die Frontlinie zwischen denen, die so etwas betreiben (und oft genug leugnen), und denen, die es bekämpfen. Emotionen bleiben nicht aus, nicht das Schmerzempfinden über eine Welt, in der so etwas noch immer geschieht.

Wenn man aber "Das Kapital" liest, stellt man überrascht fest, dass Marx einen Begriff der Ausbeutung verwendet, der von normativen Implikationen gereinigt scheint. Überhaupt verfährt er mit moralischen Urteilen äußerst sparsam. Im Vorwort zur ersten Auflage findet man einen Hinweis: "Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ Wir sehen, er wertet das überhaupt nicht moralisch, sondern aus ganz anderen Gesichtspunkten.

Wir sehen hier beschrieben, was Marx’ gesamtes Werk trägt: Er wollte bei keiner Untersuchung, bei keinem Urteil in simple Muster verfallen.

Marx setzte bei seinen Betrachtungen zum kapitalistischen System eine Gesellschaft voraus, in der alle als freie Personen agieren und über den Austausch ihrer als Waren produzierten Güter rechtsgültige Verträge schließen können. Durch rechtsgültige Verträge befriedigen die vertragschließenden Personen in Form eines Leistungsaustauschs ihre Bedürfnisse. Freilich, es gibt Menschen, die können nichts anderes anbieten als ihre Arbeitskraft, und in der Tat, es gibt auch Käufer von Arbeitskraft. Aber auch hier gilt für ihn, dass Verträge zu einem festgelegten Entgelt geschlossen werden. Diese Verträge kommen dann freiwillig zustande, wenn keine der Parteien der jeweils anderen Partei Gewalt androht, um sie in den Vertrag zu zwingen - damit werden Äquivalente getauscht. Der Arbeitslohn ist ein solches Äquivalent, für die Nutzung der Arbeitskraft in einem definierten Zeitraum.

Ausbeutung im Sinne einer Mehrwerterzeugung ist also - laut Marx - ein Austausch, der Kapitalisten und Arbeiter in ein konkretes Vertragsverhältnis stellt. Gleicher kann es nicht sein. Marx machte wie kein anderer vor ihm deutlich, dass die Quelle des Mehrwerts nicht in einem Gewaltakt der Kapitalistenklasse gegenüber der Arbeiterklasse zu sehen ist. Zwar blieb die Geschichte des Kapitalismus stets auch eine Geschichte der Brutalität, und Marx hat daran nie vorbeigesehen, aber diese unmittelbare Gewalt ist nicht die Quelle des Mehrwerts.

Der Begriff der Ausbeutung bekommt bei Marx daher eine neutrale, fast schon technische Bedeutung: Eine Rohstoffquelle ist produktiv, wenn der Nutzen den Aufwand rechtfertigt - dann beutet man sie aus. Und wenn die Nutzung der menschlichen Arbeitskraft durch einen Kapitalisten den Aufwand an Kapital rechtfertigt, wenn die Nutzung also produktiv ist, dann wird auch sie genutzt, also – ausgebeutet. Das heißt, die Arbeiterin und der Arbeiter arbeiten eine bestimmte Zeit lang und stellen Werte her, die ihrem Lohn entsprechen. Danach arbeiten sie weiter, und das stellt den Gewinn des Unternehmers her – und das ist der Mehrwert, den sie erzeugen. Das Ganze basiert auf vertraglicher Grundlage.

Der Begriff der Ausbeutung hat bei Marx also zunächst einmal eine ökonomisch-theoretische Rolle und nicht eine moralische. Wenn man das nicht weiß, kann man sein Werk auch nicht verstehen.

Die Aneignung des Wertes der Mehrarbeit durch den Kapitalisten erscheint nicht nur im formalen Sinn legitim, sie scheint - wie Marx im "Kapital" schreibt - eine geradezu selbstverständliche Angelegenheit zu sein; vom Standpunkt des Kapitalisten "ist der Arbeitsprozeß nur die Konsumtion der von ihm gekauften Ware Arbeitskraft, die er jedoch nur konsumieren kann, indem er ihr Produktionsmittel zusetzt. Der Arbeitsprozeß ist ein Prozeß zwischen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat. Das Produkt dieses Prozesses gehört ihm daher ganz ebenso sehr als das Produkt des Gärungsprozesses in seinem Weinkeller. (...) Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei.“

 

5. Verhinderte Freiheit

Wenn Marx die Ausbeutung so zwangfrei beschreibt und bei seiner Analyse die übelsten Auswüchse des Kapitalismus ausdrücklich nicht in den moralisch verurteilenden Blick nimmt - was ist dann eigentlich, jenseits aller Formen der Versklavung, falsch an diesem System?

Es ist das Unfreiwillige in den kapitalistischen Formen der Kooperation: der Arbeiter als Anhängsel der Maschinerie, das Kommando des Kapitals und die Autorität des Kapitalisten - nicht die Arbeiter kooperieren, sondern das Kapital lässt Arbeiter kooperieren, das heißt: Die Formen kapitalistischer Produktion verfehlen die Idee einer emanzipierten Gesellschaft. Das „Falsche“ am Kapitalismus ist, dass die gesellschaftliche Selbstbestimmung viele Bereiche umfassen mag, aber die Produktionsweise wird gar nicht oder nur ungenügend einbezogen.

Diese Art und Weise wurde in ihrem Zustandekommen als zwangfrei beschrieben, aber wir sehen jetzt, so ganz stimmt das auch nicht. Ich werde immer gefragt, wenn ich das sage, ob ich denn zurück will zur staatlichen Plankommission und zu dieser Art Wirtschaft, die es in der DDR gab. Dort gab es niemals eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation hinsichtlich der Produktion. Ein Werkleiter entschied allein und das auf Weisung der Partei. Das hatte mit einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion und Erörterung dessen, was man herstellte und wozu man es herstellte und mit welchem Aufwand man es herstellte etc. nichts zu tun. Was Karl Marx meinte, war also etwas völlig anderes, als das, was der Staatssozialismus diesbezüglich geboten hat.

Wir können diese Art und Weise als Resultat einer nicht völlig emanzipierten Gesellschaft interpretieren. Der Arbeiter kommt nicht aus seiner Lage heraus, seine Arbeitskraft stets aufs Neue verkaufen zu müssen. Es gibt freie Berufswahl, aber keine freie Wahl der Klasse, in die man hineingeboren wird. Dieser Zwang wird persönlich meist gar nicht so sehr erlebbar, es ist ein stummer, anonymer Zwang. Es ist ein Zwang der Verhältnisse, der sich von den Kooperationsformen auf die Gesellschaftsstruktur ausbreitet. Marx hoffte deshalb auf mehr Emanzipation, setzte auf die Möglichkeit einer freieren Gesellschaftsorganisation. Auch hier findet sich der Gedanke wieder, dass das „Falsche“ am Kapitalismus - der die Arbeitskraft stets stärker ausbeutet, indem er das Zeitverhältnis zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit zugunsten der Mehrarbeit verschiebt - in seinen Emanzipationsschranken besteht. Natürlich gab es schon immer und gibt es auch heute den Wechsel von Menschen von einer Klasse in die andere. Aber wer selbständig wird ist noch keinesfalls emanzipiert. Es kann ihm noch schlimmer ergehen als Arbeiterinnen und Arbeitern. Übrigens, ein wirklicher Klassenwechsel findet in anderen Länder deutlich häufiger statt als in Deutschland, weil unser Bildungssystem durch die Trennung der Kinder nach der 4. oder 6. Klasse grob sozial ausgrenzt. Das verhindert den chancengleichen Zugang zur Bildung.

Ich war das erste Mal nach dem Mauerbau im Westen im Januar 1988. Bis dahin war ich genauso eingesperrt, wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Ich war in Paris. Wenn du als DDR-Bürger nach Paris kommst, bist du schon leicht geblendet. Ich kannte die 8 verschiedenen Autos auf den Straßen der DDR, sah da tausend verschiedene und wusste, dass ich das nie mehr lerne. Das war mir klar. Dann war ich in einem Käseladen, da gab es über 300 Sorten. Ich wusste, die kriege ich nicht mal probiert in meinem Leben. In meiner Kaufhalle gab es 4 Sorten und das war ein leichtes Privileg, weil es in Dessau nur 2 Sorten gab. In Ost-Berlin ging es uns immer etwa doppelt so gut wie in Dessau. Das war alles fantastisch.

Das Schönste für mich war, und das können Sie gar nicht nachempfinden, weil Sie die DDR nicht kennen, dass ich im Restaurant nicht platziert wurde. Ich konnte mich einfach hinsetzen, wo ich wollte. Das war ein ungeheurer Freiheitsgewinn, kann ich nur sagen. Die Geschäfte haben mich beeindruckt. Dann fand eine Kundgebung gegen die Regierung statt und die schimpften auf die Regierung was das Zeug hielt. Das imponierte mir alles. Ich habe mir natürlich nicht die Bildungsstrukturen ansehen können; nicht die Krankenhäuser, ich war nicht in einem Produktionsbetrieb. Das konnte ich mir alles nicht ansehen. Aber eine Sache hat mich schockiert, wirklich schockiert: sie müssen wissen, in Paris im Louvre hängt von Leonardo da Vinci die Mona Lisa mit ihrem berühmten Lächeln. Und ich wusste, dass sie sauer ist, wenn ich nicht vorbeigehe und sie mich nicht anlächeln kann. Das kannst du nicht machen! Also bezahlte ich die Metro-Fahrt zum Louvre und den Eintritt und war pleite. Sehen Sie, da wusste ich, wenn ich in der DDR mit öffentlichen Verkehrsmittelen zu den alten Meistern in Dresden fahre und den Eintritt zahle, um die Sixtinische Madonna zu sehen, kostet es mich fast nichts. Deshalb bin ich ein leidenschaftlicher Kämpfer dafür, den Zugang aller Menschen zu Kunst und Kultur zu ermöglichen. Nicht, dass du ihn dir leisten können musst, es muss für alle bezahlbar sein. Das ist eine grundlegende gesellschaftspolitische Frage. Ich bitte Sie wirklich darüber nachzudenken: kann das dritte Kind der Hartz-IV-Empfängerin die Neunte von Beethoven mit der Berliner Philharmonie oder der Staatskapelle oder dem Münchener Orchester mit dem Dirigenten Daniel Barenboim mit 4 Spitzensängern und einem fantastischen Chor im Original hören oder nur zerquetscht auf dem Computer? Das ist eine zentrale gesellschaftspolitische Frage, die wir falsch lösen und wo die Kommunen immer den ein oder anderen Ausgleich versuchen, aber das reicht nicht. Wir müssen wissen, Kunst und Kultur haben wir so zu subventionieren, dass jede und jeder sich den Zugang leisten kann.

Marx kritisiert die knechtende Unterordnung unter eine Arbeitsteilung, nämlich die schöpferische und die nichtschöpferische Tätigkeit. Sie alle studieren oder haben studiert, um schöpferisch tätig sein zu können. Der Präsident Ihrer Universität ist natürlich schöpferisch tätig, ich bin es auch. Wir beide sind auch nie auf die Idee gekommen, dauerhaft nicht schöpferisch tätig zu sein, denn das ist höchst anstrengend. Ich war mal in einem Unternehmen, da stand eine Frau, die machte 8 Stunden am Tag die gleiche Armbewegung. Nach 2 Stunden könntest du mich in die geschlossene Psychiatrie bringen. Und das hält die aus! Und das war für Marx ein Phänomen, wie man das überwinden kann. Mein früherer, inzwischen verstorbener Mandant Rudolf Bahro hat in seiner Alternative eine Idee entwickelt. Er sagt: Warum können wir eigentlich nicht allen Kindern die ihnen höchst mögliche Bildung ermöglichen, sie dafür gewinnen und so weiter? Dann kommt immer das Gengenargument, dass ja auch andere Arbeiten verrichtet werden müssen. Wer macht dann sauber, wer macht diese Armbewegung und so weiter? Da war seine Idee: du hast ein Unternehmen, da gibt es nur Ingenieurinnen und Ingenieure und die müssen alle nicht-schöpferischen Tätigkeiten mitverrichten. Das heißt, sie sind ca. 40% ihrer Arbeitszeit nicht schöpferisch. Sie müssen sauber machen und so weiter. 60% arbeiten sie mit ihrem Wissen als Ingenieurin oder als Ingenieur. Und er meinte, wenn man eine Gesellschaft so organisierte, würden die Ingenieurinnen und Ingenieure so erfindungsreich werden, wie wir es uns gar nicht vorstellen können. Der Unterschied ist ganz einfach: das eine ist ein gesellschaftlicher Widerspruch, über den kannst du abends beim Wein diskutieren. Aber das andere bedeutet, du musst ihn selbst ausleben, und wenn du ihn selbst ausleben musst, überlegst du dir, wie du die blöde Arbeit loswirst. Ich habe mir als Rechtsanwalt damals überlegt, als ich das gelesen habe, was machte ich, wenn ich keine Sekretärin hätte? Es war ja nicht wie heute, Siri gab es nicht, Computer gab es auch nicht. Da habe ich mir gesagt, es hätte zwei Folgen. Die erste Folge wäre, dass ich sehr viel kürzere Schriftsätze verfasste, weil ich sie ja selber schreiben muss. Und die zweite Folge wäre, dass ich mich mit Ingenieuren anfreundete, ob die nicht eine Maschine entwickeln könnten, die mir das Schreiben abnimmt. Mit anderen Worten: wir müssen uns in gewisser Hinsicht auch unter Druck setzen, selbst unter Druck setzen, um bestimmte Widersprüche lösen zu können.

Und nun was die Gewalt betrifft: Natürlich gibt es sie - strukturell. Jeder Tarifstreit, jeder Streik bestätigt, was Marx über die spezielle Gleichheit zwischen den Tarifpartnern schrieb: "Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, also wieder nicht der Person, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter oder der Arbeiterklasse (...) Die Schöpfung eines Normalarbeitstages ist das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse." Wie immer die sich modifiziert hat. Wenn Sie noch Anfang des 20. Jahrhunderts daran denken, wie für den 8-Stunden-Tag gekämpft worden ist, dann wissen Sie welche Kämpfe da über Jahrzehnte geführt worden sind, um bestimmte Dinge zu erreichen.

Aber, was meine ich mit Emanzipationsschranke? Es mag ja stimmen, dass die Politik wirtschaftliche Prozesse nicht zu steuern vermag. Vielleicht ist das sogar gut? Die Erfahrung mit dem Staatssozialismus muss in dieser Hinsicht zu denken geben - an der „inneren Konterrevolution“ ist er gewiss nicht gescheitert. Was ihn vor allem ruinierte, war eine zukunftsuntaugliche Wirtschaftsweise. Zudem fehlte ihm die demokratische Grundierung, die individuelle Freiheit der Menschen. Also, wo ist das Problem der Schranke im Kapitalismus?

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts etwa setzte sich in der Bundesrepublik sowohl in der CDU als auch in der Sozialdemokratie die Auffassung durch, der „Kostenfaktor Arbeit“ sei zu hoch. Da eine Nominallohnsenkung in einer der reichsten Volkswirtschaften nicht in Frage kam, blieben drei andere Wege: Der erste nannte sich Lohnzurückhaltung und wurde in den „Bündnissen für Arbeit“ praktiziert, auch von den Gewerkschaften. Der zweite Weg bestand darin, die Lohnnebenkosten abzusenken - das war der Part der Sozialdemokratie und der Grünen. Konkret bedeutete dies, die Einzahlungen in die Sozialsysteme zu senken und damit auch die Sozialstaatsbelastungen für die Arbeitgeberseite; später wurde der Arbeitgeberanteil sogar eingefroren. Der dritte Weg, der ebenfalls von der Sozialdemokratie und den Grünen forciert wurde, bestand in der Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigung - fast alle neu geschaffenen Arbeitsverhältnisse seit den Hartz-Reformen sind Niedriglohnjobs gewesen.

Wenn man nun kritisch nachfragte, woraus sich die Notwendigkeit dieser ungerechten Praxis ergab, warum also ordentliche Arbeit nicht auch ordentlich bezahlt werden könne, warum konjunkturelle Belebungen nicht auch Lohnwachstum nach sich zögen, so kam von den Tonangebenden unisono eine einzige Antwort: die Standortfrage! Wenn man das Kapital im Lande halten wolle, so die Begründung, müssten ihm Anreize geboten werden. Mit dem gleichen Argument wurden Steuern für große Konzerne und für hohe Einkommen gesenkt. Entkleidet man diese Logik aller Verklausulierungen, bleibt als nüchtern-nackte Tatsache: Die Kapitalseite ist zu mächtig und zu sehr mit dem Staat verbandelt - aller neoliberalen, staatsbekämpfenden Ideologie zum Trotz.

Und auf einem Niveau, das auch Kinder in Kindertagesstätten begreifen können, betreibt es jetzt Trump. Was mir an ihm gefällt ist eine Sache, dass er das nationalen Egoismus nennt. Jeder andere würde nie von Egoismus sprechen. Er benennt es wenigstens so. Dann sagt er offen, was sein Ziel ist. Er will die einen reinholen, die anderen rausschmeißen und so weiter und er praktiziert das durch. Das heißt, eine Art von Egoismus, wo du siehst, und mit seiner Person stimmt es ja auch noch überein, er ist ja Milliardär und außerdem Präsident. Du hast hier also geradezu die klassische Mischung, wie jemand genau seine Interessen und die Interessen ähnlicher Leute durchsetzt und zwar nackt, direkt und ohne Schnörkel. Ohne Schnörkel imponiert den Leuten, aber es imponier ihnen zu sehr. Man kann sagen, es ist gut, dass er es direkt so nennt, aber es ist kein Grund, ihn zu wählen, um das auch mal deutlich zu sagen.

Geballte Kapitalmacht und eine Gesellschaft, die sich den Ideen demokratischer Selbstbestimmung verpflichtet sieht, bilden ein Widerspruchspaar, das mehr und mehr zur gefährlichen Konfrontation neigt. Und gar zu gern hätten die Prediger des freien Marktes deshalb eine verlässliche Staatsreligion: dass Verlierer einfach nur um ihr bisschen Habe beten, statt zu rebellieren. Hoffend, dass alte Begriffe neu poliert werden könnten: "Sozialdemokratisierung" als Burgfrieden, "Sozialpartnerschaft" als befristet eingesetztes Beruhigungsmittel gegen das Kämpfertum der Benachteiligten. Und ich sage Ihnen auch, eine Kritik von mir: die Universitäten sind verschult worden. Dadurch sind Sie, die Studenten nicht mehr rebellisch genug. Sie lassen sich zuviel bieten. Nicht, dass Sie mich missverstehen: Sie müssen nicht so chaotisch werden, wie die von 68, aber rebellischer als heute müssen Sie schon werden.

 

6. Emanzipation und Kultur

Die besagte Emanzipationsgrenze umfasst noch eine weitere Dimension: die Kultur. Nun gibt es wahrlich und unbestritten weit kulturlosere Verhältnisse als die der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufklärung, diese wohl bürgerlichste Kulturbewegung, hat erst den untrennbaren, hoch schätzenswerten Zusammenhang zwischen Bildung, Öffentlichkeit und Kritik real hergestellt. Deswegen bleibt die Aufklärung auch ein wichtiges Erbe für die Linke. Wir finden trotzdem heute eine Art verhunztes Kulturdenken vor. Vielen ist nicht klar, dass Kultur und Kunst nicht dasselbe sind. Kultur ist auch nicht einfach die Ergänzung des Kunstbetriebs um ein paar öffentliche Museen und Bibliotheken. Nach dem Muster der Aufklärung verstehe ich unter Kultur eine geistige Bewegung einschließlich der dafür erforderlichen Praxisformen (Wissenschaften, Künste, Wissensvermittlung) und der entsprechenden Institutionen.

In der Neuzeit haben Wissenschaft und Kunst ein Selbstbild autonomer Entwicklungslogiken entworfen. Das hängt historisch mit der Entbindung aus kirchlicher und höfischer Aufsicht zusammen. Dieses Selbstbild liefert aber auch die Grundlage für Kritik. Denn bedauerlicherweise kam zur kulturellen Emanzipation aus kirchlicher und höfischer Heteronomie ein Moment neuer Heteronomie: durch Märkte. Die Tendenz, Bildung durch Ausbildung zu verdrängen, ist unübersehbar geworden. Der Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano hat die Universität als Kadettenanstalt der Finanzmärkte bezeichnet. Auf der Strecke bleiben Traditionen und Qualitäten, deren unmittelbare Nutzanwendung im kapitalistischen Verwertungsprozess nicht auf Anhieb zu sehen ist. Die Universitäten wurden außerdem verschult.

Genügt es nicht, fragen manche, dass junge Menschen jene Kompetenzen erwerben, die sie fit für die Arbeitswelt der Zukunft machen? Und hat sich die Beschäftigung mit Kunst nicht auch dieser Maxime zu beugen? Genau das öffnet einem sehr speziellen Zynismus Tür und Tor. Überspitzt gesagt: Sollte sich herausstellen, dass das Hören von Mozartopern das innovative Denken befördert und bei der Gründung von Start-ups Vorteile verschafft, nun, dann wird man das unterstützen; sonst eben nicht. Wer so denkt, denkt m. E. falsch. Kunst gehört, neben der Wissenschaft, zumindest für Friedrich Schiller zu den "edelsten Werkzeugen" des Menschen, die es ihm erlauben, sich im "Reiche der vollkommensten Freiheit" zu bewegen - und im Imaginären, in der Phantasie, in der Herzensbildung zu Positionen und Gedanken zu kommen, die zurückwirken auf die Arbeit an den Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft. Das ist der Sinn des Genusses von Kunst und Kultur.

 

7. Utopie

Welche absolut gültigen, unantastbaren Maßstäbe der Gerechtigkeit eine emanzipierte Gesellschaft entwickeln könnte, weiß ich nicht, und ich bezweifle, dass man es überhaupt definitiv benennen kann. Eines aber scheint sicher: Gerechtigkeit muss mehr umfassen als die formale Gleichheit im Recht und die politische Mitbestimmung.

Reizvoll ist Marx‘ und Engels‘ Utopie von jener freien Assoziation, in der die Freiheit des Einzelnen Bedingung für die Freiheit aller ist. Reizvoll ist diese Idee deshalb, weil hier der Begriff der Gerechtigkeit (Freiheit aller) konkret ausgefüllt wird durch die Freiheit des Einzelnen. Sie gibt es in mehreren Ausformungen: erstens als Freiheit von etwas (hier könnten die kapitalistischen Schranken genannt werden); zweitens als Freiheit zu etwas (hier könnten gesellschaftliches Engagement und gesellschaftliche Erfordernisse stehen, denen man zwar nicht ausweichen kann, bei denen aber die Art und Weise, wie man ihnen gerecht wird, Gegenstand der Selbstbestimmung sein könnte); drittens die individuelle Freiheit, die Bezug nimmt auf die individuelle Bedürfnisbefriedigung - und die auch ein politisches und besagtes kulturelles Moment umfasst. Wenn ich das Recht bekomme, über zwei chemische Formeln zu entscheiden und ich verstehe sie beide nicht, hat das mit Freiheit nichts zu tun. Das ist Willkür.

Gemeinsame Arbeit an einem solchen Zustand, der eine fortwährende Bewegung ist - das wäre die Freiheit aller. Die Erfindung der Freiheit wäre es nicht. Aber ein Novum durchaus. "Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen. Jede Art der Freiheit hat daher immer existiert, nur einmal als besonderes Vorrecht, das andre Mal als allgemeines Recht."

Aufschlussreich übrigens eine DDR-Erfahrung mit dem "Kommunistischen Manifest". In der Sekundärliteratur wurde damals gern daraus "zitiert": Die freie Entwicklung aller wäre die Voraussetzung der freien Entwicklung des Einzelnen. Diese These passte genau in die Logik der damaligen Propaganda, eine bestimmte Unfreiheit in der DDR zu erklären, ja, zu legitimieren durch die Autorität der Klassiker: Da weltweit noch nicht alle frei seien, müsse halt auch der Einzelne in der DDR noch warten. Der Schriftsteller Stephan Hermlin las noch einmal das Original, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Karl Marx und Friedrich Engels hatten genau das Gegenteil geschrieben. In ihrem Manifest hieß es, die Freiheit des Einzelnen sei die Voraussetzung für die Entwicklung der Freiheit aller. Hermlin schrieb, bei Marx und Engels sei etwas benannt, das in der DDR "unausgesprochen" bleiben sollte, es war "absurd, dass man eine Prophetie einfach auf den Kopf stellte, weil sie nicht in die Köpfe sollte". Die "Korrektur" durch den Schriftsteller hat mich damals schockiert. Man fühlte sich betrogen - aber die Sache warf ein bezeichnendes Licht auf einen selbst: Man hatte Marx und Engels zu oberflächlich gelesen - oder gar nicht, ihn aber dennoch ständig im Munde geführt - und gern die Wissenschaftlichkeit der eigenen Weltanschauung betont. Wieso habe ich denn die blöde Sekundärliteratur gelesen, statt im Original nachzulesen?

"Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft", schreibt Marx sehr realistisch in seiner "Kritik zum Gothaer Programm". Und entwickelt an anderer Stelle jene wunderbare Phantasie, die im Zusammenhang mit Gerechtigkeit so gern zitiert wird: "In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

Auch Sie die noch sehr jung sind, werden das nie erleben. Es wird auch die Menschheit so nie erleben. Aber ob man sich einem solchen Zustand annähert oder sich von ihm immer weiter entfernt, das ist die gesellschaftspolitische Kernfrage, um die es geht. Übrigens gab es auch in der Bundesrepublik immer ein falsches Zitat von Marx. Es wurde immer behauptet, Karl Marx hätte geschrieben: „Religion ist Opium für das Volk!“ In Wirklichkeit schreibt er: „Religion ist Opium des Volkes!“ Das ist ein gewaltiger Unterschied. „Religion ist Opium für das Volk!“ heißt, die Religion wird oktroyiert. Wenn man aber sagt „Religion ist Opium des Volkes!“, sagt man: das Volk sucht sich Religion in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Da bin ich ein Pingel. Ich möchte wenn, dass er richtig zitiert wird, damit man seine wirkliche Meinung kennt und nicht die eigene Meinung über gefälschte Zitate zum Ausdruck bringt. Weder in dem einen, noch in dem anderen Staat.

 

 

8. Ein eigentümlicher Text

Nun muss ich Sie auch ein bisschen unterhalten: Der folgende Text hat mich immer fasziniert, aber auch weil ich Jurist bin. Er ist natürlich selbst satirisch und auch bezogen auf den großen englischen Satiriker Mandeville. Vor allem aber als Jurist bin ich immer wieder fasziniert. Die Überschrift bei Marx lautete:

Abschweifung

(über produktive Arbeit)

 

Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs

mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als "Ware" auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. Ganz abgesehn von dem Privatgenuß, den, wie uns ein kompetenter Zeuge, Prof. Roscher, (sagt) das Manuskript des Kompendiums seinem Urheber selbst gewährt.

Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.

Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen "Dienst". Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht nur Müllners "Schuld" und Schillers "Räuber", sondern selbst "Ödipus" und "Richard der Dritte" beweisen.

Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der

Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen "Ausgleichungen" ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive "nützlicher" Beschäftigungszweige auftun.

Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung der Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden (siehe Babbage) ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf die Erfindung von Maschinen. Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen? Und ist der Baum der Sünde nicht zugleich der Baum der Erkenntnis seit Adams Zeiten her? Mandeville in seiner "Fable of the Bees" (1705) hatte schon die Produktivität aller möglichen Berufsweisen usw. bewiesen und überhaupt die Tendenz dieses ganzen Arguments: "Das, was wir in dieser Welt das Böse nennen, das moralische so gut wie das natürliche, ist das große Prinzip, das uns zu sozialen Geschöpfen macht, die feste Basis, das Leben und die Stütze aller Gewerbe und Beschäftigungen ohne Ausnahme; hier haben wir den wahren Ursprung aller Künste und Wissenschaften zu suchen; und in dem Moment, da das Böse aufhörte, müßte die Gesellschaft verderben, wenn nicht gar gänzlich untergehen." Nun war Mandeville natürlich unendlich kühner und ehrlicher als die philisterhaften Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft.

Ich finde, schon sein Unterhaltungswert hat es verdient in anders zu würdigen. Du musst ja erstmal auf so eine Idee kommen.

9. Biografisches und Zitate

Jetzt biete ich Ihnen neun kurze Sprüche von Karl Marx:

  1. Leider habe ich keine Zeit und muss deshalb einen langen Brief schreiben.

Und das stimmt! Ein kurzer Brief dauert länger.

  1. Wer nichts achtet, ächtet sich selbst.
  2. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.
  3. Wer ein Programm für die Zukunft verfasst ist ein Reaktionär.

Das gefällt mir besonders.

  1. Jeder Schritt echter Bewegung ist wichtiger als dutzend Programme.
  2. Das Reich der Freiheit beginnt da, wo die Arbeit aufhört.
  3. Die Philosophie verhält sich zum Studium der realen Welt wie das Onanieren zur sexuellen Liebe.

Alles Karl Marx, ich bitte um Entschuldigung.

  1. Sie wissen es nicht. Aber sie tun es.
  2. De omnibus dubitandum – Deutsch: An allem ist zu zweifeln.

Ich glaube, das ist sein wichtigster Grundsatz, den kann man von ihm lernen.

Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 in dieser Stadt geboren. Heute wäre er 200 Jahre alt geworden und wir dürfen ihn beglückwünschen.

Nach stürmischer Jugend, und anderen Jahren konnte er sein geniales Werk nur als Flüchtling fertigen. Preußen, praktisch ganz Deutschland hielt ihn nicht aus, London schon.

Er hatte nicht nur eine beispiellose Frau, nämlich Jenny Marx, sondern einen einzigartigen Freund, nämlich Friedrich Engels, der wusste, dass er nur die zweite Violine spielte und der darüber glücklich war.

Warum nenne ich die Freundschaft einzigartig?

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es ein Verhältnis von Karl Marx mit der Haushälterin seiner Familie gab. Sie wurde schwanger und gebar ein Kind. Doch Friedrich Engels hat vor Jenny Marx geschworen, dass er ein Verhältnis zu der Haushälterin hatte, dass er die Schwangerschaft verursacht hat. Er hat das Kind anerkannt, er hat den Unterhalt gezahlt. Und jetzt bitte ich alle Männer: denken Sie mal ganz ehrlich darüber nach, ob Sie einen Freund haben, für den Sie das täten. Ich habe lange darüber nachgedacht: Einen habe ich. Den habe ich immer noch. Für ihn würde ich das noch heute tun, egal wie glaubwürdig es ist, aber ich würde ihn vorher einen Tag lang beschimpfen, das ist auch klar. Aber solche Freundschaften sind selten. Und selbst dieses negative Beispiel zeigt, wie es zwischen den beiden lief.

Wir hier in Deutschland haben immer noch ein unnatürliches Verhältnis zu Karl Marx. Er ist zweifellos ein großer Geist der Menschheitsgeschichte und zweifellos einer der größten Söhne Deutschlands. Für seinen Missbrauch in der Sowjetunion, in der DDR und in anderen Ländern ist er nicht verantwortlich. Wir müssen ihn von diesem Missbrauch endlich befreien, in dem wir ihn als das verstehen, was er war, als Denker und Kämpfer einer Befreiungsidee. Und wir müssen ihn befreien aus seiner Verbannung aus Deutschland.

Die Französinnen und Franzosen sind völlig anders gestrickt als wir. Sie lieben Jeanne d’Arc und Napoleon. Zwei unterschiedlichere Personen kann man sich gar nicht ausdenken. Das macht ihnen nichts aus. Wenn Karl Marx ein Franzose gewesen wäre, hätten sie 8 Universitäten mit seinem Namen und das störte nicht einmal den konservativsten Präsidenten. Das nähme er einfach hin. Die haben eine andere innere Toleranz, als wir. Jetzt haben wir ein neues Denkmal in Trier heute eingeweiht; ein Geschenk aus der Volksrepublik China. Ist das wirklich nötig? Hätten wir nicht selbst den Auftrag für ein Denkmal geben und es bezahlen können? Herr Präsident, Professor Jäckel, Sie haben sich zurecht beschwert, dass Ihre Universität und auch eine andere Hochschule bei keiner einzigen Veranstaltung erwähnt worden sind. Aber wenn Sie doch endlich meinen Gedanken folgen würden und auch dafür wären, Ihre Universität in Karl-Marx-Universität umzubenennen, garantiere ich Ihnen, dass Sie auf jeder dieser Veranstaltungen genannt werden. Ich sage Ihnen noch etwas: der Kapitalismus, und wer ihn will muss begreifen, ist doch erst souverän, wenn er Karl Marx aufnimmt, wenn er die Kraft hat, nicht mehr sich vor ihm zu scheuen, sondern Dinge nach ihm zu benennen. Das macht dann auch das Leben der Linken viel schwerer. Ich verstehe gar nicht, warum die Konservativen das nicht begreifen. Sie können nicht über ihren Schatten hinausdenken. Und deshalb sage ich das in allem Ernst: Ich bitte alle Verantwortlichen, endlich dieser Universität, in der Geburtsstadt von Karl Marx den Namen Karl Marx zu verleihen.

Man darf sich mit Karl Marx auch kritisch auseinandersetzen, sollte sich aber klar zu ihm bekennen.

Ich habe es mir gerade anders überlegt. Das mit der Namensverleihung dauert mir bei den Verantwortlichen zu lange. Ich bitte Sie, was ich jetzt sage auf Ihre Art ernst zu nehmen und umzusetzen:

Ohne jede oder doch nur mit einer sehr begrenzten Zuständigkeit verleihe ich aus Anlass seines 200. Geburtstages dieser Universität hier und heute den Namen Karl Marx.