Artikel in der jungen Welt: Grundrechte unter Kostenvorbehalt

Katrin Werner, MdB

Am 14.12.2016 ist in der Beilage „Behindertenpolitik“ der Tageszeitung junge Welt ein Artikel von Katrin Werner zum Bundesteilhabegesetz erschienen.

Das Bundesteilhabegesetz der Koalition verbessert die Lage behinderter Menschen nicht – im Gegenteil

Das ablaufende Jahr ist eines der behindertenpolitischen Katastrophen. Es begann im Frühjahr mit der Debatte um das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Durch dessen damals anstehende Novellierung hätte Barrierefreiheit zum Alltag werden können. Doch die Bundesregierung ließ diese Chance ungenutzt. Statt die private Wirtschaft und damit den Bäcker um die Ecke, die Kneipe nebenan, die Arztpraxis oder Apotheke zur Zugänglichkeit auch für Menschen mit Behinderung zu verpflichten, blieb das Gesetz lediglich auf die Bundesbehörden beschränkt. Damit geht es an der Lebensrealität vorbei, denn das Leben spielt sich nun mal in der Regel nicht in Bundesbehörden ab.

Mitte Mai ketteten sich Aktivisten und Betroffene über 24 Stunden lang an ein Geländer am Reichstagsufer, um für Barrierefreiheit auch in der Privatwirtschaft zu demonstrieren. Über den Sommer fanden Demonstrationen und Aktionen im gesamten Land statt. Am 21. September sprangen Menschen mit Behinderungen in die Spree, um darauf hinzuweisen, dass ihre Teilhabe »baden geht«. Die Proteste richteten sich gegen ein Gesetz, das der Bundestag am 1. Dezember verabschiedet hat und das am 16. Dezember auf der Tagesordnung des Bundesrates steht. Das Bundesteilhabegesetz regelt die sogenannten Eingliederungshilfen neu. Dazu zählen Unterstützungsleistungen für das Alltagsleben sowie für den Zugang zu Bildung und Arbeit (siehe jW vom 26.9.2016). Auf breite Ablehnung stößt das Gesetz deshalb, weil es trotz eines Beteiligungsverfahrens im Vorfeld viele Hauptforderungen der Betroffenen ignoriert. Notdürftig haben die Fraktionen der Regierungsparteien zwar noch in letzter Minute durch 68 Änderungsanträge die größten Lücken gestopft, aber eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen garantiert das Gesetz dennoch nicht. Hätten die Betroffenen nicht für ihre Rechte gekämpft und einen der größten Abwehrkämpfe der letzten Jahrzehnte geführt, gäbe es auch die wenigen Verbesserungen nicht. Das Gesetz ermöglicht zum Beispiel weiterhin, Betroffene in Heime zu zwingen, wenn die Kosten für die Unterstützung zu hoch sind und das Sozialamt es für »zumutbar« hält. Es beinhaltet, dass Teilhabeleistungen an mehrere Leistungsberechtigte gemeinsam erbracht werden können (»Pooling«). Menschen mit Behinderungen müssen sich dann beispielsweise eine Assistenz im Bereich Kultur oder hauswirtschaftliche Tätigkeiten teilen und können somit nicht mehr selbstbestimmt über ihre Tagesplanung entscheiden. Möchte einer ins Kino, können die anderen nicht zum Sport. Der größte Knackpunkt werden die unzähligen Rechtsstreitigkeiten aufgrund unsachgemäßer Ermessensentscheidungen sein.  

Zwar soll es zukünftig Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen auf Teilhabeleistungen geben. Eine personenzentrierte und steuerfinanzierte sowie einkommens- und vermögensunabhängige Unterstützung in allen Lebenslagen und -phasen, also auch im Ehrenamt oder im Krankenhaus, wird  damit jedoch nicht geschaffen, obwohl dies seit Jahrzehnten von Betroffenen gefordert wird.

Auch der allgemeine Arbeitsmarkt wird sich durch diese Gesetzesvorlage nicht wesentlich ändern. Die von Betrieben zu erfüllende Beschäftigungsquote wird ebenso wenig erhöht wie die sogenannte Ausgleichsabgabe, die Arbeitgeber bei Unterschreitung der Quote zahlen müssen. Unternehmen werden zukünftig also nicht in stärkerem Maße dazu verpflichtet, mehr Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Das ist angesichts der seit Jahrzehnten auf hohem Niveau stabilen Zahl behinderter Erwerbsloser nicht nachzuvollziehen. Der versprochene Paradigmenwechsel, Menschen mit Behinderungen aus der Fürsorge herauszuholen und ein modernes Bundesteilhabegesetz zu schaffen, wurde mit diesem Gesetz nicht erzielt.  

Mit den internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik ist dieser politische Kurs nicht vereinbar. Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York die UN-Behindertenrechtskonvention, die am 26. März 2009 für Deutschland völkerrechtlich verbindlich wurde. Bisher wurden Menschen mit Behinderungen regelmäßig ihre Grundrechte versagt. Dazu zählen etwa das Recht auf freie Wahl des Wohnorts, eine gute Bildung, Zugang zu Informationen, angemessene Gesundheitsversorgung oder auch das Recht auf Arbeit. Das Ziel der Konvention ist, die Menschenrechte der Betroffenen zu wahren und diesen eine vollumfängliche Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn der Gesetzgeber in einem der reichsten Länder der Welt daran Abstriche macht, stellt er die Menschenrechte unter Kostenvorbehalt.  

Katrin Werner ist behindertenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

(junge Welt vom 14.12.16)